Ein musikalischer Abend zum Gedenken an Leo Kok
Die Veranstaltungsreihe «Musik und Wort» widmet ihr Programm am 28. Oktober dem Gedenken an den Komponisten und Pianisten Leo Kok.
«Der Zyklus Pierrot Lunair op.4.von Max Kowalski und der gleichnamige Zyklus von Arnold Schönberg sind im selben Jahr – 1913 – entstanden. Beide Komponisten vertonten die Gedichte von Albert Giraud, teilweise dieselben. Sie schätzten sich als Kollegen sehr. Der Zyklus von Max Kowalski war in den 20er Jahren viel populärer als der von Arnold Schönberg. Kowalski blieb tonal und fand eine komplett andere Klangsprache für den Pierrot als Schönberg. Die starke, theatralische Ausdruckskraft dieser Lieder faszinieren mich. Wir haben drei Poulenc-Lieder ausgesucht, die die Pianistin und ich sehr lieben. Letztlich brachte uns die Bekanntschaft von Kok zu der Gruppe Les Six dazu, sie mit ins Programm zu nehmen. Von Kok zeigen wir eine kleine Auswahl seines Lied-Schaffens, die uns am besten gefällt.»
(c) Foto: Joachim Gern
Buchhandlungen sind Orte für Geschichten – in Form von Romanen, Erzählungen, Geschichten über Ereignisse und Menschen. Eine Geschichte hatte es der Sopranistin Ingala Fortagne besonders angetan, als sie vor ca. zwei Jahren zum Stöbern in die «Libreria della Rondine» in Ascona kam: die Lebensgeschichte von Leo Kok (1893-1992), dem Gründer der Buchhandlung. Im Jahr 1945 wurde der holländische Pianist, Komponist und Spion in Dienste Gross Britanniens aus dem Konzentrationslager Buchenwald befreit. Damals war er bereits 52 Jahre alt und hatte ein bewegtes Leben unter den grossen Pariser Revuestars hinter sich. In jüngeren Jahren war er zeitweise in Ascona zuhause und arbeitete eng mit der Ausdruckstänzerin Charlotte Bara zusammen, die er auf ihren Tourneen durch Europa musikalisch begleitete. Nun machte Kok Ascona zu seiner neuen Heimat, wie so viele Menschen, die von den Kriegstreiben entwurzelt wurden; so auch Erich Maria Remarque, der von Leo Kok sehr viel über das Leben im Lager Buchenwald erfuhr und 1947-1950 in seinen Roman «Der Funke Leben» verarbeitete.
Recherche in der Gedenkstätte Buchenwald
Ingala Fortagne wollte mehr über Leo Kok und sein Werk wissen und reiste nach Buchenwald, um dort nach möglichen Spuren musikalischen Schaffens während seiner Häftlingszeit zu suchen. In Buchenwald wurde viel musiziert. Der holländische Geiger Jo Juda, der sich als Geisel im Lager befand, erinnert sich‚ «dass beim ersten Sonntagnachmittags-Konzert alle Musikliebhaber unserer Gemeinschaft, die zum Zuhören in den grossen Raum gekommen waren, bereits beim ersten Stück ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle hatten. Es wurde geschluchzt, geweint; bei einigen bewegte sich nervös der Unterkiefer. Mir selbst liefen die Tränen über die Wangen. Nach einer halben Stunde war die Oberseite der Geige klatschnass. Das war das emotionsgeladenste Konzert, dass ich je gegeben habe.» (Quelle)
Leo Kok war weniger privilegiert: Er arbeitete nach eigener Auskunft gegenüber dem schweizer Historiker und Schriftsteller Jean Rudolf von Salis– notiert in den «Aufzeichnungen eines Müßiggängers» - im Steinbruch. Zwar arrangierte und dirigierte er das Abschlusskonzert nach der Befreiung Buchenwalds – er nannte dies einmal «Buchenwald Potpourri»; davon abgesehen hat er aber keine musikalischen Spuren aus der Lagerzeit hinterlassen. Das bisher bekannte Werk Koks blieb insgesamt überschaubar: Ca. 25 Werke, schätzt Fortagne, davon die meisten Lieder.
Max Kowalski
Ein weiteres Oeuvre, mit dem sich Ingala Fortagne bereits länger beschäftigt, ist dasjenige des Juristen, Komponisten und Sängers Max Kowalski aus Frankfurt. Die jüdische Familie war Ende des 19. Jahrhunderts von Russisch-Polen nach Deutschland gekommen und wurde 1938 Opfer der nationalsozialistischen Pogrome. Kowalskis Aufenthalt im Lager Buchenwald war kurz und hatte den Zweck, sein Vermögen zu erpressen, das die SS-Leute häufig dann für private Zwecke verwendeten. Er konnte nach seiner Einwilligung im gleichen Jahr seiner Inhaftierung nach London ins Exil ausreisen, wo er – verwitwet - bis zu seinem Tod lebte und als Gesangslehrer, Sänger und Klavierstimmer seinen Lebensunterhalt verdiente. Max Kowalski vertonte Dichter aller Nationen, darunter Rainer-Maria Rilke, Hermann Hesse und Klabund, und fand die Beachtung namhafter Sänger und Sängerinnen.
Francis Poulenc
Der Lebensweg von Leo Kok hat sich in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Paris auch mit demjenigen von Francis Poulenc gekreuzt. Er vertonte Lyrik u.a. von Guillaume Apollinaire, Jean Anouilh, Paul Éluard, und während der deutschen Besetzung Frankreichs u.a. Gedichte, die ihm aus dem Widerstand anonym zugespielt wurden.
Das Programm
Ingala Fortagne hat zusammen mit der Pianistin Nadia Belneeva ein Programm mit Kompositionen der drei Komponisten zusammengestellt, das im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Musik und Wort» am 28. Oktober 2023 präsentiert wird. Sie erklärt im Gespräch die Zusammenstellung des Programms: «Der Zyklus Pierrot Lunair op.4.von Max Kowalski und der gleichnamige Zyklus von Arnold Schönberg sind im selben Jahr – 1913 – entstanden. Beide Komponisten vertonten die Gedichte von Albert Giraud, teilweise dieselben. Sie schätzten sich als Kollegen sehr. Der Zyklus von Max Kowalski war in den 20er Jahren viel populärer als der von Arnold Schönberg. Kowalski blieb tonal und fand eine komplett andere Klangsprache für den Pierrot als Schönberg. Die starke, theatralische Ausdruckskraft dieser Lieder faszinieren mich. Wir haben drei Poulenc-Lieder ausgesucht, die die Pianistin und ich sehr lieben. Letztlich brachte uns die Bekanntschaft von Kok zu der Gruppe Les Six dazu, sie mit ins Programm zu nehmen. Von Kok zeigen wir eine kleine Auswahl seines Lied-Schaffens, die uns am besten gefällt.»
Dorothea Wiehmann wird dazu Texte aus dem historischen Kontext lesen.
Veranstaltungsdaten
28. Oktober 2023, 18.00 Uhr
Chiesa Evangelica di Ascona, Viale Monte Verità 80
Eintritt frei, um Spende wird gebeten
Über die Künstlerinnen
Die Sopranistin Ingala Fortagne sucht seit Beginn ihres klassischen Gesangsstudiums an der Hochschule für Musik und Theater «Felix Mendelssohn-Bartholdy» in Leipzig und an der Hochschule für Musik «Franz Liszt» in Weimar die Ausdrucksmöglichkeiten der klassischen Sängerin zu erweitern. Egal welche Stilrichtung, welches Repertoire sie interpretiert, geht es ihr um den Ausdruck, um die Aussage. Ihre Projekte, die auch das herkömmliche Repertoire der Opern-, Oratorien- und Kammermusik mit einbeziehen, sind oft schwer einzuordnen. Sie arbeitet spartenübergreifend, um dem Musiktheater als Gesamtkunstwerk näher zu kommen. 2021 entwickelte sie in einem Künstlerkollektiv in Basel ein digitales Onlinejournal mit vertonten Haikus über die Pandemie. 2023 brachte sie ihre CD «OBHUT» mit dem Label Incipit Novum heraus.
Die in Sofia geborene Pianistin Nadia Belneeva studierte zunächst an der Nationalen Musikakademie in ihrer Heimatstadt. 1993 erhielt sie ein Stipendium der Oscar und Vera Ritter Stiftung, welches ihr das Studium an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg bei Prof. R. Nattkemper ermöglichte. Weitere Ausbildungen hatte Nadia Belneeva am Königlichen Konservatorium in Brüssel sowie an der Schola Cantorum in Basel (historische Tasteninstrumente) absolviert. Internationale Meisterkurse, u.a. bei Leon Fleisher, Georgy Sebök und Pavel Gililov, ergänzten ihre künstlerische Laufbahn. Von 2003 bis 2007 hatte sie einen Gastvertrag als Korrepetitorin an der Staatsoper Hamburg. Sie lebt in Basel, wo sie als Korrepetitorin am Theater Basel tätig ist.