Ein Gespräch mit Melchior Werdenberg...

...über Realität, Wahrheit, seine Liebe zu Friedrich Glauser und darüber, was ihn mit Aline Valangin verbindet.


 «Zufrieden bin ich dann, wenn es mich selbst hineinzieht.»

 

Melchior, fünf Erzählbände sind inzwischen von Dir erschienen; wann bis bist Du mit einer Erzählung zufrieden?

Wenn mir beim Lesen der eigenen Geschichte das Augenwasser kommt. Fürs Schreiben braucht es das Denken, aber beim Lesen muss man auch etwas spüren. Zufrieden bin ich dann, wenn es mich selbst hineinzieht.

 

Wer sind Deine besten Kritiker?

Meine Freunde, denen ich oft voller Ungeduld eine neue Geschichte sende, um dann mit Ungeduld auf deren Reaktion zu warten.

 

Auf der Website Deines Verlags Elster & Salis ist in Deiner Biografie zu lesen, Du seist bekennender Glauser-Liebhaber. Wie bist Du mit seinem Werk in Kontakt gekommen und wie hat es Dich beeinflusst?

Glauser kenne ich seit der Mittelschule, vom Lesen, aber natürlich auch von den Wachtmeister Studer Filmen mit Heinrich Gretler, den wir Schüler in seinen späteren Jahren noch oft sehen konnten, weil er stets am runden Tisch im «Pfauen» seinen Roten trank. Glauser gefiel mir, ich fühlte mich mit ihm emotional verbunden. Seine Drogensucht, seine Lügengeschichten und anderes konnten mich nicht davon abhalten, ihn in mein Herz zu schliessen. Ich glaube, meine Beziehung zu Glauser ist bis heute affektiv.

 

Die Personen und Geschehnisse in Deinen Geschichten nehmen wir Leser wie durch einen Schleier wahr: häufig bleiben die Situationen unklar – man weiss nicht, ob man sich auf die eigene Vorstellung vom Geschehen verlassen kann. Dann wieder werden menschliche Eigenschaften messerscharf ins Visier genommen. Dieses Lavieren mit Schärfe und Unschärfe schafft Spannung. Das «Gemeine» ist, dass Du Deine Leserinnen und Leser gerne auch in dieser Unschärfe verharren lässt. Fast so, als würdest Du mit ihnen spielen – interpretiere ich Deine Absichten falsch?

Tatsächlich befinde ich mich beim Schreiben immer in einem Dialog mit dem fiktiven Leser. Ich stelle mir vor, welche Assoziationen ich mit jedem Satz, ja fast jedem Wort hervorrufe. Ich antizipiere Reaktionen und gestalte sowohl Handlung als auch Beschreibung, um die Leserin auf den von mir gewünschten Kurs zu bringen. So ähnlich habe ich auch meine Anklagen als Staatsanwalt konzipiert; das waren kurze faktenbezogene Häppchen mit etwas Würze.

 

Ein kleiner Bogen in Deine Biografie: Hat Deine Lebenserfahrung aus den Augen des Juristen mit diesem Spiel mit Schärfe und Unschärfe zu tun?

Keep it simple ist das Geheimnis des erfolgreichen Strafrechtlers, sei er Ankläger oder Verteidiger. Er braucht die messerscharfe Analyse und daraus resultierend die Reduktion auf die Essenz. Aber man verlässt damit natürlich zwangsläufig auch die Realität. Jede Anklage ist eine Fiktion und das Urteil sowieso. Friedrich Glauser hat das unnachahmlich klar ausgedrückt: «Wahrheit hat mit Worten nichts zu tun.»

 

In der Beschäftigung mit Glauser bist Du auf Aline Valangin – ebenfalls eine sehr scharfe Beobachterin – gestossen. Ihre Charaktere und Erzählungen hat sie nicht nur in einer Tessiner Kulisse angesiedelt. Sie beschreibt intensiv die Abdrücke, die Landschaft und Lebensbedingungen in den Menschen in den 30er-40er Jahren hinterlassen: In ihrem emotionalen Erleben und in ihren Beziehungen zueinander. Immer scheint die Psychoanalytikerin durch. Welchen Blick hast Du als der Autor Melchior Werdenberg auf Menschen?

Auch mit Aline Valangin verband mich beim Lesen ihrer Tessiner Dorfgeschichten sofort eine persönliche Nähe. Wie Glauser beobachtet sie scharf und weiss es, ihre Beobachtungen sprachlich wunderbar umzusetzen. Und wie Glauser teilt sie mit dem Leser ihr Mitgefühl mit den Menschen, ihr tiefes Verständnis für unsere Schwächen. Auch ihr möchte ich gerne ähnlich sein, verstehen, ohne zu verurteilen. Und die Unschärfe, die Du bei mir festgestellt hast, die findest Du auch bei Glauser und Valangin; auch sie geben nicht vor, alles zu wissen, alles zu verstehen.

 

Worauf dürfen sich die Besucherinnen und Besucher am 13. September in der Casa Serodine freuen?

Vielleicht gelingt es uns an diesem Abend, zwei reizende Menschen, die gemeinsame Berührungspunkte in Zürich und Ascona hatten, in unsere Gegenwart herüberzuholen. Die Libreria della Rondine ist aus Gründen, die wir an diesem Abend erläutern werden, der exakt richtige Ort für diesen Versuch.

 

Interview: Karen Heidl

 

Veranstaltungsinformationen
13. September 2022
im Hof der Casa Serodine (neben dem Municipio) in Ascona 
um 18.00 Uhr. 

Eintritt 15.- CHF, um Anmeldung wird gebeten.

 

 

Anmeldung per Email an [email protected] oder hier