Auf den Spuren von Leo Kok
Seit ich die Libreria della Rondine betreibe – dies sind in diesem Moment ziemlich genau vier Jahre – begegnen mir immer wieder ihre Vorbesitzer: in Gesprächen, in Erinnerungen von Besucherinnen und Besuchern, in Emails oder Videos. Menschen erzählen mir ihre Erinnerungen. Das ist schön, denn auch das soll die Libreria della Rondine sein: Ein Ort, an dem die Erinnerungen geteilt werden und lebendig bleiben können. Aber es ist so eine Sache mit Erinnerungen – sie können trügen. So entsteht mitunter Widersprüchliches. Am Ende ist dies aber nicht so wichtig. Ich denke, dass jeder Mensch das Recht auf seine eigenen Erinnerungen hat. Wir sind eben keine Datenspeicher. Unser Gehirn vermischt die Fakten mit Gefühlen, Träumen, Wünschen und wer weiss, was es noch so anstellt. Über die Funktionsweise des Gehirns wissen wir noch nicht so viel.
Widersprüchliches in der Biografie Leo Koks
Um einige Fakten zusammenzuhalten, erstellten wir vor zwei Jahren einen Wikipedia-Eintrag für den Gründer der Libreria della Rondine, Leo Kok, der im Wesentlichen auf den umfassenden Recherchen von Gideon Boss basierte. Wir sichteten allerdings auch weitere Quellen, die sich im Internet oder in der Literatur finden lassen. Hier war es nicht immer ganz klar, ob es sich bei Referenzen auf «Leo Kok» um ein und dieselbe Person handelte. Wir wussten zu diesem Zeitpunkt, dass es noch einen Maler gleichen Namens gab, der kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers Eibsee (ein Aussenlager von Mauthausen) an Auszehrung gestorben ist.
Angestossen von einem Artikel in der NZZ nahmen wir die Autobiografie des Pariser Revuestars Mistinguett von 1954 zur Hand und stiessen auf eine längere Passage über Leo Kok, den Komponisten und Pianisten. Ihre Ausführungen über die Zeit zwischen 1937 und 1939 hinterliessen den Eindruck, dass er ein rechter Schlawiner gewesen sein muss, der in den 30er Jahren eine Bar in Berlin betrieben hatte, wie er ihr erzählte – was man, so Mistinguett, glauben konnte, aber nicht unbedingt musste. Sie berichtet, dass Leo Kok zu Übertreibungen neigte, auch was sein künstlerisches Schaffen anbelangte. Als sie mit ihm und einer Künstlergruppe 1939 auf Südamerika-Tournee ging, hat Leo Kok eine Millionärin geheiratet (die Scheidung bereits 1940) und sang neben den Bühnenauftritten mit Mistinguett unerlaubterweise in Bars, was diese recht verärgerte. Auch die Art und Weise, wie er Mistinguetts Aufmerksamkeit gewinnen wollte, hatte nichts von Zurückhaltung: Leo Kok hatte Billetts für die ersten drei Reihen eines Auftrittslokals in Brüssel erworben – nur um ihr aufzufallen. Sie nannte ihn immer «mein kleiner Käskopp». Das alles fand ich doch merkwürdig und fing an mich zu fragen, wie diese Darstellung mit den bisherigen Darstellungen der Person Leo Kok zusammenpassen könnten.
Die Menschen, die Kok kannten, hatten ganz andere Erinnerungen mit mir geteilt: Sie schilderten mir einen eher zurückhaltenden, aber willensstarken Charakter, der zur Schweigsamkeit neigte und sensibel auf Menschen reagierte. Natürlich wussten wir inzwischen, dass Leo Kok niemals in der holländischen Fussball-Nationalmannschaft gespielt hat – allerdings ist zu bezweifeln, dass er das jemals behauptet hätte. Kok studierte auch nicht, wie verschiedentlich formuliert, bei Wilhelm Pijper, sondern war mit dem fast Gleichaltrigen befreundet. Gemeinsam verbrachten sie in den 1920er Jahren viel Zeit in Ascona, zusammen mit Hetty Marx, deren Mutter auf dem Monte Veritá wohnte. Der Biograf Pijpers Arthur von Dijk berichtet von diesen Zusammenhängen. Auch seltsam erscheint die Aussage, Leo Kok habe als Pianist Rita Streich begleitet. Die 1920 geborene Rita Streich gab ihr Debüt als Opernsängerin nach ihrer Ausbildung in Deutschland 1943. Zu diesem Zeitpunkt war der zwanzig Jahre ältere Leo Kok in Paris, später im Konzentrationslager Buchenwald und danach trat er nicht mehr als Konzertpianist auf. Es ist nicht wahrscheinlich, dass Streich und Kok zusammengearbeitet haben.
Solche Verzerrungen einer Biografie entstehen, wenn Menschen Erinnerungen offenbaren. Die Erinnerung trügt manchmal. Aber die Sache mit der Bar in Berlin wollte so gar nicht passen, ebensowenig die Barauftritte in Südamerika und die Millionärin.
Verblüffende Parallelen zweier Menschen mit dem Namen Leo Kok
Allard Marx, Sohn von Iddo Marx und Leo Koks Enkel, löste die Sache schliesslich auf. Er habe sich, so schrieb er in einer Email an eine Forscherin in Sachen Kok, schon «einmal in diesem Rabbit-Hole verirrt». Es gab nämlich noch einen weiteren Leo Kok, dessen eigentlicher Name Leendert Kok war. Dieser war zehn Jahre jünger als «unser» Leo Kok, arbeitete als Tänzer, Pianist und Komponist und hielt sich über einige Jahre gleichzeitig mit ihm in Paris auf. Er war es, der mit Mistinguett tourte, mit Maurice Chevalier bekannt war, vielleicht eine Bar in Berlin betrieb und ein kurzes Eheintermezzo in Montevideo einging.
Dies bestätigte mir Lily Kok (https://www.lilykok.nl), die den Tänzer Leo Kok Anfang der 1960er Jahre kennenlernte und mit ihm in einer Bühnenshow namens «He, She and the Piano» auftrat. Lily Kok war nie mit dem Tänzer Leo Kok verheiratet. Sie hat einfach den Namen Kok als Künstlernamen behalten und wurde damit in Holland recht bekannt.
Leo und Liliy Kok. (Foto zur Verfügung gestellt von Lily Kok)
Beide Leo Koks kannten Erich Maria Remarque:
«Zurück in Paris nimmt sie [Mistinguett] Marlene Dietrich und Erich Maria Remarque mit zu den Bällen in der Rue de Lappe mit Léo Kok. Der Abend endet im Kabarett Chez Tonton an der Place Blanche.» (Mistinguett - La Reine du Music-Hall von Martin Pénet, Seite 702)
Der Tänzer, Komponist und Pianist Leo Kok (Leendert Kok) in den 30er Jahren. (Screenshot der Bildrecherche bei der Galerie Roger Viollet)